Mysterium einer Wald-Fahrt

Dem Leben nacherzählt von Alfons Schreieck

Jene Todesfahrten feindlicher Flugzeuggeschwader des zweiten Weltkrieges über deutschen Städten und Dörfern und die folgenden Detonationen krepierender Bomben, die Kirchen, Häuserzeilen, Kinder, Frauen, Greise, Gesunde und Sieche ins Verderben rissen, werden in der Erinnerung der Überlebenden und in Erzählungen an die Nachgeborenen noch lange gegen die Schrecken moderner Kriege zeugen.

Ja, in jenen Tagen und Nächten hat gar mancher das Beten gelernt oder es heiß empfohlen und es als einziges Mittel, sich in der Notstunde stark zu machen, erkannt. In meiner Heimat, inmitten einer herrlichen, weit ausholenden Traubenlandschaft vor immergrünen Bergen zum Rheine hin, ist es damals zu einem fürs ganze Dorf und in ferne Zukunft geltendem Versprechen gekommen: falls es mit der Hilfe der Armen Seelen gelänge, das Dorf mit seinen über Tal und Hügeln gestreuten Häuserreihen aus diesen flackernden Stunden schwerster Not heil zu erhalten, so würde im Dorf der jeweilige Allerseelentag am zweiten November als Feiertag erklärt werden.

Dieses eigenartige Versprechen ist eigentlich nicht zu verwundern. Schon weit, weit vor dem ersten Weltkrieg hat der Allerseelentag in meinem Heimatdorf eine große Geltung gehabt. Es geht da oben von jeher und soweit ich persönlich denken kann, die Meinung um, mit dem Besuch der Allerseelenmesse verknüpfe sich für den Tag ein besonderer Segen zum Gelingen der Arbeit. Es öffnet sich darum an diesem Tage keine Werkstatt vor Besuch der Messe, und keine Winzerfaust wagt ein Arbeitsgerät in den Wingert zu tragen. Was aber meinem Vater an einem solch besagten Novembertag geschah, das darf man ruhig und in festem Glauben als unerklärbares Mysterium hinnehmen, besonders auch deshalb, weil schließlich die Person des Erzählers als Zeuge des Erlebnisses aufgerufen wurde.

Gewiß war es von meinem Vater nicht Boshaftigkeit wider jenen Allerseelentagsglauben, als er einmal in grauer Frühe mit dem Zweigespann der Kühe in Begleitung des jüngeren Bruders meiner Mutter eine Fahrt in den sogenannten Hinterwald unternahm, um am Abend vor Einbruch der Nacht eine gute Ladung Brennholz unter Dach zu bringen. Das konnte nach Meinung des Vaters nicht alle Tage geschehen, weil sein eigentlicher Handwerksberuf ihm sonstwie genug drängende Verrichtungen auftrug und die Tage günstigen Wetters bei so nahem Wintereinbruch gezählt waren. Knarrte also der zur Waldfahrt aufgerüstete Wagen an jenem frühen Morgen wohlgemut ins hintere Waldgebiet unserer Berge. Die Sterne standen noch sichtbar am Himmel, eine gute Stunde später aber läutete es im Dorf zur feierlich zu begehenden Allerseelenmesse . . . Das Gotteshaus zeigte heute den Glanz gehobenen Tages. Schwarzsamten waren die Altarstufen belegt, zwischen goldenen Kerzenflammen, die im frostigen Novembermorgen mit roten Strahlenkränzen brannten, leuchtete der reiche Altarschmuck weißer Herbstblumen. Um die schwarzbehangene Tumba, das Symbol des Totenschreines, warf das Gitter brennender Kerzen seinen Schein in grünen Lorbeer- und weißen Asternwald. Die Schulpflichtigen auf ihren gewohnten Plätzen richteten bei solch feierlichem Gepräge ihr Herz weit inniger als sonst auf den frommen Verlauf der Totenmesse, die der eisgraue Prälat in besonders vornehmen Kasel las. Wie die Mauern hielt das Mannsvolk die Emporen besetzt, und in den Bänken des Langschiffes hatten die Frauensleut kein Plätzchen übrig gelassen. Vollgepfropft wie nur selten war die Kirche mit Betern. Sie alle bauten sich aus der Seele helle Straßen in geheimnisvolles Land der Abgeschiedenen hinüber .. . und die Toten nahmen Gesicht an und grüßten geheimnisvoll herüber .. .

Das also war und ist bis heute der Zauber des uralten Allerseelentages, der das nunmehr folgende Tagwerk nach altem Heimatglauben doppelt leicht gelingen lasse. Auf stillem Waldwege aber ratterte Vaters Wagen in den rauhen Novembermorgen hinein.

Bis zum Mittag hin hatte ein scharfer Wind den Himmel blankgefegt, und die am Morgen nebelverhangenen Berge grüßten mit klarem Sonnenglanz in die Gassen des Dorfes herein. Ich stand so gegen zwei Uhr des Nachmittags in einem Grüpplein Buben auf dem freien Platz vor dem Gasthaus zum Goldenen Wolf.

Mutters Elternhaus stand gegenüber. Da kam plötzlich eiligen Laufes der Onkel die Straße herunter, der doch, um diese Zeit noch tief im Walde bei der Fuhre sein sollte. Das brachte mich im Augenblick von meinen Spielgefährten los. Ich fürchtete schon, irgendwie sei ein Unglück geschehen und war gespannt auf das, was ich nun vernehmen sollte. Was aber war geschehen? Der Onkel berichtete: Wir stecken im Finstertal und kommen keinen Schritt weiter, das Vieh zieht nicht an, du mußt bei deiner Großmutter auf dem "Berg" eine Vorspannkuh holen. Beeil dich!"

Nun, wenn es nichts Schlimmeres war, das konnte geheilt werden, meine anfängliche Befürchtung war rasch verflogen. Ich machte mich sofort auf den Weg zum Hause der Berger Großmutter, um eine ihrer starken Fahrkühe für den Vater in den Wald zu erbitten.

Aber o neues Pech! Onkel und Tante, Vaters noch ledige Geschwister, waren nach der Allerseelenmesse mit dem Fuhrwerk selber in den Hinterwald gefahren. Da standen jetzt Onkel und Neffe, die dem Vater Hilfe schaffen sollten, vor einem im Augenblick unlösbaren Problem; denn keiner hatte den Mut, irgendwo anders um eine Kuh anzufragen. So nahmen wir beide den weiten Weg zum Vater unter die Füße. Statt einer dritten Kuh ein elfjähriger Bub, ein gar armseliger Notbehelf in einer so schlimmen Lage! War doch schon alles Kraftmäßige der Männer, sogar mit Hebelkniffen, versucht worden! Doch wir zehrten auf dem Wege von der stillen Hoffnung, die Sache habe sich während der Abwesenheit des Onkels zum Besseren gewendet, und der Vater sei uns schon ein bedeutendes Wegstück entgegengerückt. Warum auch nicht?

Lag doch, wie der Onkel erzählte, gar kein sichtlicher Grund für das Versagen der Tiere vor: die Ladung konnte nicht als übermäßig schwer bezeichnet werden, der Fahrweg befand sich in gutem Zustand, den Tieren war genugsam Zeit zur Ruhe und Rast und Fütterung gelassen worden. Mit Hebebäumen hatte man die Fahrlast den Kühen sogar auf die Schwänze schieben können, ohne daß sie zum Anziehen zu bewegen waren. Rein wie behext standen die Kreaturen, nicht mit Locken, nicht mit Schlägen waren die sonst zuverlässigen Geschöpfe zum Zuge zu bringen. Sie glotzten, nahmen alles hin und streckten die Köpfe teilnahmslos in die Luft. Nach mehrstündigen Bemühungen war danach der Onkel ins Dorf gelaufen mit dem bereits bekannten Mißerfolg. Aber auf dem ganzen Wege — die Fuhre blieb beharrlich aus. Wir erreichten schon die Paßhöhe, auf der die Totenkopfhütte stand, nun ging es abwärts zum Finstertal: die Fuhre blieb beharrlich aus. Mit jedem Schritt wurde uns das Herz schwerer, wir konnten ja dem nun schon mehrere Stunden wartenden Vater die so sehnlichst erhoffte Hilfe nicht bringen. . . . Dort unten an der Wegbiegung, genau auf dem alten Fleck, stand der Wagen. Gar bald hatte uns der Vater erblickt, er kam uns entgegen, noch heute sehe ich sein enttäuschtes Gesicht und seine hilflose Gebärde, als er uns so kommen sah.

"Heiliger Gott, was jetzt?" rief er aus.

Noch einmal wollte man's versuchen. Mich, den Elfjährigen, hieß er die Handkuh am Halfter nehmen, die Männer wollten nochmals mit Leibeskräften in die Speichen greifen.

"Also denn noch einmal mit Gottes Hilf ans Werk!" rief der Vater. Daß es aber jetzt mit der schwachen Handreichung des Kindes gelingen sollte, das war nun wahrhaftig nicht leicht einzusehen.

Der so dorf-ferne Hinterwald barg dem Buben schon ohnehin Mär und Sage und dunkles Geschehen, in dieser besonderen Stunde kam er ihm erst recht nicht ganz geheuer vor. So lärmlos war der Wald, kein warmer Ton vertrauten Lebens war zu hören, geisterhaft still standen die Bäume. Ein merkwürdiges Wort aber hatte ich den Vater sagen hören:

"Die Armen Seelen lassen uns nit fahren! Geschieht uns recht!"

"Wie?" fuhr es dem Buben durch den Kopf, "die Armen Seelen hindern uns den Weg? Wir müssen doch heim!" Und er formte Angst und allen Glauben seiner jungen Seele zu einem himmelstürmenden Stoßgebet. Warum sollten nicht auch jetzt die vierzehn Engel mir zur Seite stehen, die man im Nachtgebet oft genug zitierte? Ich nahm auf Geheiß die Scheck am Halfter und schrie im Verein der Männer mein Hü hott!

Jetzt ereignete sich das fabelhaft Einfache und doch so Wundersame: die Tiere, als ob sie es gar nicht anders konnten, legten sich ins Zeug und ließen die Stränge nicht mehr locker — der Bann war gebrochen. Keiner Männerhand bedurfte es mehr am Wagen, der Junge allein hatte das Gespann vorweg. Der Eifer der Tiere ließ nicht mehr nach, es ging unaufhaltsam zur Paßhöhe hinauf. Mit glücklichem Herzen wandte ich mich einmal zum Vater herum.

"Bleib nur an deinem Platz!" rief er mir zu. Das war so gesagt, als ob von meiner schwachen Hand auch fernerhin alles abhinge, als ob mein Persönchen für eine endliche Heimfahrt unentbehrlich wäre. So kamen wir bald hinauf auf die Ebening des Totenkopf. Der schwierigste Teil des Weges lag nun hinter uns. Von hier aus bis ins Dorf hinein rechnete man noch anderthalb Stunden, aber die Fahrt war jetzt auf ebenem Boden ein Spiel. Hinter uns knallte plötzlich eine Peitsche, unsere Leute, Onkel und Tante vom Berg, kamen in in Sicht. Da wurden wir noch froher.

Die hohen Tannen und Buchen, die den Wegrand säumten, dämpften schon merklich das Licht, doch über ihre Wipfel hinweg sahen wir es noch in hellerer Bahn silbern dahinfließen. Die Kühe zogen gut, der Junge behielt seinen Platz, und alle vierzehn Engel seines Herzens folgten ihm in gleichem Schritt. In der Dorfnähe mußte ich meine Augen auf die Sterne richten, sie gehörten nach meiner Meinung auch zu dieser seltsamen Waldfahrt, bei der die Last und Schwere der Arbeit uns zu der Himmelsleiter drängte, die über Sternenhöhen uns die Gnade des Gelingens suchen hieß und sie auch fand. Der Vater hinter mir wägte mit Hirn und Herz das geheimnisdunkle Warum. Die Hand des Buben hatte ihm nach seiner Auslegung den von ihm vergessenen Segen aus der Allerseelenmesse am Morgen, die er selber zum erstenmal versäumt, in den Wald bringen müssen. Eine gesegnete Kinderhand hatte sich ihm heute weit stärker als kraftgrobe Männerfäuste erwiesen. Von diesem Glauben war der Mann nie mehr abzubringen.

Aber auch mir wird das Mysterium dieser Waldfahrt zeitlebens unvergessen bleiben. Die Zweifler sollen die Natur dieses Erlebnisses auf ihre Weise ruhig zu drehen und zu deuten versuchen. Schon um das berühmte Dichterwort kommen sie nicht herum, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Uns aber gibt der Glaube noch weit tiefere Sicht und Schau. Die Sternenbrände der Nacht leuchten uns ein Ja dazu. Nachdem nun eingangs die Schreckenstage des zweiten Weltkrieges und das Armenseelenversprechen meines Heimatdorfes erwähnt wurden, soll nun die Chronik offenbaren, was sie merkwürdig genug festzuhalten hat:

Am hellen Mittag des Sankt Josefstages des Jahres 1945 überflog ein feindliches Flugzeuggeschwader das Dorf. Wollte es wirklich seine Bombenlast über dem Weinort abwerfen? Klar lagen die Häuser mit schimmernden Dächern in der mittägigen Sonne. Das Feindgeschwader überflog die Wohnstätten der Menschen, aber kurz vor dem Dorfe draußen folgten gewaltige Detonationen, so daß die Bewohner glaubten, die Hölle wolle über sie kommen. Mit vierunddreißig riesigen Sprengtrichtern kurz vor dem Dorf war das Weinland schrecklich gezeichnet, das Dorf aber mit all den Häusern und verängstigten Menschen war unversehrt geblieben. Wer hatte das Unglück vereitelt, verhütet? Wie, wo und warum hatte die Gnade der Rettung angesetzt? Die Frommen behaupteten, durch die Dorfgassen allesamt seien die Armen Seelen flehend und betend gewandelt und so zur Wehr gestanden. Der Armenseelentag aber gilt dem Versprechen gemäß als heimatlich würdiger Festtag.

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Alfons Schreieck wurde am 23. 11. 1886 in St. Martin geboren. Nach dem Besuch der Volksschule zog es ihn ins Lehrerseminar nach Speyer. Er wollte mit ganzer Kraft der Jugend dienen. Zuletzt wirkte er als Rektor an der Volksschule in Hambach. Alfons Schreieck strebte in der Schule die Selbstverwirklichung des jungen Menschen auf christlicher Basis an.

Besonders hohe Anerkennung wurde ihm als Schriftsteller zuteil. Seine Werke bezeugen seine religiöse Grundhaltung. Sie waren nicht selten vergriffen und mußten mehrere Male aufgelegt werden. Romane und Erzählungen, von denen man heute noch spricht, sind: "Das Land unter dem Regenbogen", Roman 1924, "Das Domgesicht und seine Wächter" (1939). Den ersten Preis der Bayerischen Staatszeitung erhielt er für "Die acht Fackeln des Bruders Silvio" (1928), es folgen: "Hinter den sieben Bergen", Geschichten für schlichte Leute, 1914, "Das Haus mit den drei Köpfen", "Die Postkutsche von Katurab", "Brautnacht Toren".

Außerdem ist Alfons Schreieck der Autor vieler Erzählungen und Kurzgeschichten wie: "Klunkermann und sein Evchen", 1937, "Fröhlich Pfalz, Gott erhalts!", "Ismael Schnapphahn und seine Hunde", "Spiel um das Münster" und vieler Legenden vom heiligen Martinus, die in Zeitschriften, Zeitungen und Kalendern veröffentlicht wurden.

Alfons Schreieck starb am 8. März 1965 in Hambach.


Am 17. Oktober 1945 schrieb Pfarrer Wittmer an das Gouvernement Militaire in Landau nachstehenden Brief:

In Einlösung eines religiösen Versprechens - Bewahrung des Dorfes vor Verwüstung durch Kriegshandlungen - begeht die kath. Pfarrei Sankt Martin alljährlich den 2. November, Allerseelentag, als Gelöbnistag an die Gefallenen und andere Todesopfer der Kriegszeit mit einer religiösen Feier in der Pfarrkirche und auf dem Friedhof, verbunden mit einer völligen Arbeitsruhe. Das katholische Pfarramt St. Martin stellt hiermit die ehrerbietigste Bitte, die Militärregierung Landau wolle huldvollst genehmigen, daß zukünftig am 2. November bis Mittag 12.00 Uhr alle Wirtshäuser, Geschäfte und Büros geschlossen bleiben, um für den ernsten Charakter der Verpflichtung die notwendige Ruhe, sowie allen Angehörigen der Gefallenen und Todesopfer und der ganzen Gemeinde eine unbehinderte, ungestörte und würdevolle Begehung des Gedächtnisses gewährleisten zu können.
St. Martin am 17. Oktober 1945
Wittmer

Am 22. Oktober 1945 traf die Genehmigung, bestätigt von der Militärregierung und Landrat Dr. Forthuber ein.

Beide Texte aus: St. Martin - Geschichte eines Dorfes, Landau 1984

 
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